Wir sind nie „immer gleich“

Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Es wird erwartet, dass wir stets leisten. Dass wir funktionieren. Jederzeit bereit. Für viele ist das derart normal, dass sie gar keinen anderen Zustand kennen. Ob Herbst, Winter, Frühling oder Sommer, es wird eine Art dauerhafter Leistungsmodus erwartet. Abweichungen von diesem werden als Schwäche gewertet. Urlaub ist ein „Recht“ das ebenfalls erst erkämpft werden musste.

Wir haben eine lange Geschichte des Funktionsmodus

Woher kommt diese Erwartung, wie eine Maschine zu funktionieren? Meiner Ansicht nach hat das etwas mit dem „Überlebensmodus“ zu tun, der seit Generationen weitervererbt wird. Wir haben eine von Krisen und Kriegen gebeutelte Geschichte und es war oft überlebenswichtig „zu funktionieren“.

In diesem Funktionsmodus geht es in erster Linie darum, materielle Sicherheit zu schaffen. Egal um welchen Preis. Dieser Überlebensmodus betrifft nicht nur die Arbeit. Er betrifft ebenso unsere Beziehungen. Auch hier haben wir oft den Anspruch, dass „es funktionieren“ muss. Dass Beziehungspartner „ein Team“ sein müssten. Wir haben Erwartungen und Vorstellungen, wie eine Beziehung laufen müsste und legen diese Schablone dann auf unsere zwischenmenschlichen Interaktionen. Es ist kein Wunder, dass das „nicht funktionieren“ kann.

Denn wir Menschen sind keine Maschinen

Und wir haben auch nie nur einen Funktionsmodus. Ein Überlebensmodus ist hilfreich, solange es keine Kapazitäten für das Individuum gibt, die Situation anders zu bewältigen. Ein solcher Modus hilft dabei, die traumatische Situation zu überleben und schafft eine Art „Puffer“, drängt den Inhalt der Situation ins Unbewusste, bis wir genug Kapazitäten haben, diesen zu bewältigen und zu integrieren. Früher oder später werden wir also Ähnliches wieder erleben, mit der Möglichkeit, es neu und bewusst zu erfahren. Es zu integrieren.

Wir haben damit die Möglichkeit, den Funktionsmodus zu verlassen und einen entspannten Grundzustand zu erreichen. Einen Zustand, in dem wir Zugang zu unseren ganzen Fähigkeiten und Potenzialen haben. Diesen Zustand zu erreichen und damit uralte Themen zu integrieren, könnte die Aufgabe unserer Zeit sein. Noch nie zuvor war es so vielen Menschen wichtig, sich mit sich selbst, den eigenen Emotionen, Potenzialen und Beziehungen auseinanderzusetzen. Das ist wunderbar!

Manche sagen, das sei nur ein vorübergehender Trend. Der Trend der Coaching- und Therapieangebote. Ja, vielleicht. Aber vielleicht ist es auch eine notwendige und natürliche Entwicklung. Eine heilsame Entwicklung. Wir können mehr, als nur zu funktionieren. Wir sind lebendige Lebewesen und wir leben in Zyklen. Wir haben Phasen, in denen wir wahnsinnig viel leisten können, wir haben Phasen, in denen es wichtig ist, nichts zu tun. Wir haben Phasen, in denen es wichtig ist, zu kämpfen und Phasen, in denen wir uns verletzlich zeigen. Wir haben das gesamte Spektrum der menschlichen Wahrnehmung und des Ausdrucks zur Verfügung und in Wahrheit sind wir „nie gleich“.

Auch Beziehung kann „nie gleich“ sein

Denn wenn wir mal die Schablonen und Muster beiseite legen, wie Beziehung zu sein hätte, dann bleiben die Momente zwischenmenschlicher Begegnung übrig. Wie wäre es, wenn wir diese Momente von Definitionen befreien würden und uns einfach auf uns selbst und unser Gegenüber einlassen würden? Wenn wir offen und berührbar für uns selbst sind und offen dafür sind, den Menschen zu sehen und nicht die Rolle, die er oder sie vielleicht für uns spielen soll. Wenn wir diesen Raum betreten, dann kann so viel Heilung geschehen. Dann kann es endlich wieder darum gehen, worum es in Wahrheit geht: den Menschen. Dich. In Beziehung zu Dir und zum anderen.

Finde Dich selbst in Dir

Umarme Dich selbst und Deine Geschichte. Lieb Dich selbst und lasse jede Vorstellung los, wie das sein müsste. Lass jede Vorstellung los, wie der andere Mensch sein müsste. Wenn Du sicher in Dir stehst, dann kannst Du Dich ganz öffnen und interessiert die Welt Deines Gegenübers erforschen. Es wird Magie möglich. Für einen Moment der Berührung und dieser Moment wird vorübergehen und ihr werdet wieder bei Euch selbst landen. Um dann wieder aufeinander zuzugehen und wieder zu Euch zurückzukehren. Dieses „Pendeln“ ist die natürliche Begegnung zwischen zwei Menschen, die nichts „brauchen“. Die keine Beziehung brauchen, um sich selbst zu korrigieren oder den anderen Menschen zu korrigieren. Die keine Beziehung brauchen, um eine uralte Verletzung zu kompensieren. Oder Erwartungen zu erfüllen, oder oder oder…

Sondern einfach Menschen, die bereit sind. Bereit, einander wirklich zu begegnen und zu sehen. Mehr nicht. Das ist Magie. Wir leben in Zyklen, wir pendeln, wir verändern uns. Wir sind dynamisch. Wir sind wie das Meer, mit unendlich vielen Zuständen. Die Kunst ist es, diese Vielfalt zu erleben und zu leben. Anstatt alles glatt bügeln zu wollen, zu kontrollieren und konservieren zu wollen. Das machen wir nur aus Angst. Aus Angst allein und verlassen zu sein, verstoßen zu werden. Aus dieser Angst heraus sind wir bereit, uns anzupassen, zu verbiegen und andere zu korrigieren. Aber auf diese Weise werden wir nie einander wirklich begegnen. Denn wie sollen wir um unser selbst willen geliebt werden, wenn wir uns nicht zeigen, wie wir wahrhaftig sind und wie sollen wir andere wirklich lieben, wenn wir nicht bereit sind, den Menschen jenseits aller Konzepte und Konstrukte zu sehen?